Es ist früher Nachmittag. Neben mir höre ich in weiter Ferne ein Blubbern. Ich merke, dass mir kalt ist und mein ganzer Körper zittert. Auf einmal schrecke ich auf. Für einen Moment war ich auf dem kalten Steinboden eingenickt. Ich liege auf einem gepflasterten Weg in einem Park irgendwo im Sauerland.
Jan kocht uns auf einem Campingkocher Nudeln mit Tomatensoße. Daher das Blubbern. Gerade wirft er ein paar Oliven und Schinkenwürfel dazu. Wir, das sind Philipp, Marcel und ich, sind gerade 70 Kilometer marschiert und seit über 15 Stunden auf den Beinen. Unsere Ausrüstung besteht aus einem paar Sneakers und einem Rucksack mit etwas Wasser.
Jan ist unser Streckenposten. Das heißt, wir haben vorher ein paar Sachen eingekauft, die er uns jetzt mit dem Roller in den Park bringt.
Auf den letzten Kilometern haben meine Füße geschmerzt und ich konnte kaum noch gerade gehen. Im Park habe ich mich direkt dankend auf den Boden gelegt.
Aber meine größte Sorge: Vor uns liegen noch weitere 30 Kilometer. Wie zur Hölle soll ich jetzt nochmal sieben oder acht Stunden weiterlaufen?
Und gerade noch viel wichtiger: Komme ich überhaupt nochmal auf die Beine?
Sollte man Menschen zu extremen Herausforderungen inspirieren?
Ich befand mich in einer ganz anderen und doch sehr ähnlichen Situation, als wir im letzten Jahr den Mammutmarsch abbrechen mussten. Wir hatten monatelang hart dafür gearbeitet, dass am Eventtag alles reibungslos funktioniert.
Und dann mussten wir 2.500 Teilnehmer mitten in der Nacht nach Hause schicken.
Ich war demoralisiert, ja fast traumatisiert und fühlte mich ähnlich niedergeschlagen wie damals im Park neben dem blubbernden Nudeltopf. Nein, eigentlich war es ein anderes Gefühl. Neben dem Nudeltopf war ich einfach nur aufrichtig im Arsch. Nach dem Mammutmarsch 2016 war ich wirklich enttäuscht.
Ich habe schon viele Veranstaltungen organisiert, bin seit 2009 Unternehmer und habe vieles auf- und umgebaut. Aber vorher ist noch nie etwas richtig in die Hose gegangen. Letztendlich hat sich beim Mammutmarsch niemand ernsthaft verletzt und es hätte viel schlimmer ausgehen können. Im Nachhinein wurde uns klar, dass wir vor allem viel Pech mit dem Wetter hatten. Aber in diesem Moment war es meine Entscheidung und ich fühlte mich verantwortlich, dass so viele enttäuschte Teilnehmer nach Hause fahren mussten.
In den folgenden Wochen ließ mich eine Frage nicht mehr los: Ist es gut, so viele Menschen zu einer extremen Herausforderung zu inspirieren? Macht es wirklich Sinn mehrere tausend Teilnehmer auf eine 24-Stunden-Wanderung zu schicken?
Wenn ich wirklich an eine Sache glaube, mache ich es fast zu meiner Mission, andere davon zu überzeugen. Aber in dieser Zeit habe ich mir oft Gedanken darüber gemacht, wie viel Inspiration wirklich gut ist.
Kann eine 100-Kilometerwanderung ein Leben verändern?
Im Sommer 2016 entschieden wir uns weiterzumachen. Es sollte auch 2017 einen Mammutmarsch geben.
So richtig überwunden habe ich meine Zweifel aber erst nach und nach. Vor zwei Wochen erreichte uns die E-Mail von Pascal Grais, die dazu einen riesigen Beitrag geleistet hat.
Pascal schickte uns einige Bilder, um uns sein neues Tattoo zu zeigen. Und ich konnte meinen Augen kaum trauen. Über seine Wade erstreckte sich ein großes Mammutmarsch-Logo. Im Vordergrund ein Wanderer vor einer Waldkulisse.
Ich schrieb sofort zurück. Ich wollte unbedingt die Geschichte hinter dem Tattoo hören.
Was Pascal mir schrieb rührte mich fast zu Tränen.
2015 hörte er zum ersten Mal vom Mammutmarsch. Er fand die Idee gut, dachte aber anfangs nicht wirklich darüber nach, sich anzumelden. Pascal arbeitete neun Stunden täglich und rauchte jeden Tag 60 Zigaretten. Nach der Arbeit gab es nur ungesundes Essen und Bier.
2016 hörte er vom Abbruch. Vielleicht motivierte es ihn zu hören, dass anscheinend nicht nur Supersportler beim Mammutmarsch mitmachen. Eines Abends machte er sich auf den Weg zu seiner ersten kleinen Trainingseinheit. Das Resultat war ernüchternd. Nach fünf Kilometern fühlte er sich schlapp und hatte keine Ausdauer mehr.
Als Konsequenz daraus hörte er von heute auf morgen auf zu rauchen. Nach 23 Jahren!
Sein O-Ton:
„Wenn du beim Mammutmarsch mitmachen möchtest, dann lass die Scheiß-Zigaretten weg, und am besten den Alkohol auch! Diese Entscheidung bzw. dass nochmal ein Lebenswandel eintritt war für mich unvorstellbar. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was die letzten 8 Monaten mit mir passiert ist.“
Pascal hat 12 Kilo abgenommen. Die Geschichte hat sich in seinem Freundeskreis „wie ein Lauffeuer ausgebreitet“ und mittlerweile ist auch sein Bruder mit an Bord.
Was ist aus dem Nudeltopf geworden?
Diese Geschichte hat bei mir persönlich einiges ausgelöst. Wenn wir auch nur einen einzigen Menschen zu so einer Entwicklung motivieren können, weil er beim Mammutmarsch mitmachen möchte, dann lohnt es sich auch monatelang daran zu arbeiten, diese Veranstaltung auf die Beine zu stellen.
Aus dem blubbernden Nudeltopf ist letztendlich eine der besten Mahlzeiten geworden, die ich je gegessen habe. Ich bin aufgestanden, und es wurde wieder etwas wärmer. Mit neuer Energie brachten wir schnell die nächsten 15 Kilometer hinter uns.
Richtig anstrengend wurde es gegen Ende. Die Muskulatur auf der Oberseite meiner Füße schmerzte so sehr, dass ich den Fuß kaum noch heben wollte, um ihn wieder ein Stück vor den anderen zu setzen.
Irgendwann habe ich den Dialog gesucht.
„Ich weiß, du willst mir sagen, dass du vielleicht verletzt bist und dass ich besser mal nach dir gucken sollte. Aber vertrau mir einfach. Wir ziehen das jetzt durch und am Ende wird alles gut!“
Na, okay, manchmal war ich auch weniger verständnisvoll mit ihm. Aber dieses Gespräch hat mir sehr dabei geholfen, den Schmerz anzunehmen und weiterzulaufen. Wenn mich in dem Moment jemand im Wald gesehen hätte, hätte er mir wahrscheinlich einen Arzt gerufen. Oder einen Pfarrer.
Ich hatte übrigens wirklich nicht den Eindruck, verletzt zu sein. Sonst hätte ich vielleicht anders reagiert. Ich fand es in Ordnung, dass mein Fuß nach 85 Kilometern etwas schmerzt.
Kurz vor unserem Ziel fiel mir auf, dass wir die Uhrzeit ganz aus den Augen verloren hatten. Wir sahen das Ortseingangsschild schon vor uns, aber es waren noch einige hundert Meter. Philipp hatte einen kleinen Vorsprung.
„Lauf Philipp, wir haben nur noch zwei Minuten!“
Und so fingen wir beide an zu spurten. Ich weiß nicht, woher solche absurden Ideen auf einmal kommen, aber nach exakt 24 Stunden betraten wir humpelnd und wankend das Olper Stadtgebiet und hatten damit genau 100 Kilometer zurückgelegt.
Inspiration ist gut. Inspiriert werden ist gut. Schmerzen und Zweifel machen eine Herausforderung erst zu dem, was sie ist.
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When running up a hill, you can give up as many times as you like, as long as your feet keep moving. Dan Millman
Eines meiner Lieblingszitate, das auch hier wieder passt.
Fotoquellen:
Pathways: Attribution 2.0 CC License von Nick auf Flickr
Hiker: Tamás Mészáros
Großartiger Beitrag! Sehr motivierend. Nun freue ich mich umso mehr auf den bevorstehenden Mammutmarsch in Berlin.